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Die Kindheit - Leseprobe aus dem Roman

Dies ist eine kurze Leseprobe aus dem neuen Roman: "Im Nachhinein brennt noch Licht". Die folgende Passage ist Teil der Kindheitsgeschichte, auf die im Roman später die Erwachsenen-Geschichte folgt:

Als wir in den Zug einsteigen, ist er schon ganz voll mit Kindern. Manche weinen und es riecht nach Pippi. Magda, die neue Kindergärtnerin, die noch ganz jung ist, fährt mit uns, bis nach Norddeich. Sie schiebt mich durch den schmalen Gang und zieht drei Taschen hinter sich her. "Hier ist es!", zeigt sie in das Abteil, an dem ich schon vorbeigelaufen bin. Als der Zug anfährt, nimmt sie meine Hand und hält sie fest. Das ist schön. Ich wische ein rundes Loch in die beschlagene Scheibe und gucke, ob ich meine Mutter sehe. Ich erkenne sie von hinten, wie sie gerade die Treppen vom Bahnsteig runtergeht.
In Norddeich steigt Magda nicht mit uns aus, weil sie ja abends wieder zuhause sein muss. Sie streicht mir über den Kopf und sagt: „Du wirst sehen, das wird ganz schön.“ Ich sage, dass ich ihr eine Muschel mitbringe oder sogar zwei. Sie streicht mir nochmal über den Kopf, aber ich muss dann raus aus dem Zug, weil die Fähre ja wartet.
Ich wusste nicht, dass die Fähre ein Boot ist und so hässlich aussieht. Wir müssen in einer Reihe anstehen und auf das Zeichen warten. Es regnet und der Wind bläst so stark, dass man kaum atmen kann. Ich halte meinen Koffer fest und drehe das Schild an meinem Hals wieder so, dass man es lesen kann. Das nützt aber nichts, weil es der Wind immer wieder zurückdreht. Ein Junge hinter mir weint und schreit. Er hat seinen Koffer im Zug vergessen, darf aber nicht zurück, weil der Zug schon wieder abfährt. Ich denke an Magda, und dass sie den Koffer vielleicht schnell aus dem Fenster werfen kann. Als ich mich umdrehe, ist aber kein Fenster offen und Magda sehe ich auch nicht mehr.
Auf der Fähre sind nicht genug Sitzplätze für alle. Deshalb muss man auf dem Boden sitzen oder stehen. Es ist warm und stinkt. Wer kotzen muss, soll auf die Toilette. Man kommt aber nicht so schnell durch. Ich würd gerne zu den Rettungsbooten. Die sind orange und baumeln an der Fähre wie die Ohrringe an meiner Mutter. Aber man darf nicht raus. An der Tür stehen zwei Männer, die einen nur bis zur Toilette lassen.
Ich bin froh, als die Fähre endlich tutet, weil dass das Zeichen ist, dass wir jetzt in Norderney sind. Dann kracht und rumpelt es, als wäre vorne was kaputt gegangen. Es geht aber nochmal gut.
Wir müssen schnell in die Busse, die schon auf uns warten. Die Koffer muss man vorher abgeben, die kommen hinten in die Anhänger. Ich warte kurz und gucke, ob der Mann meinen auch wirklich reintut.
Am Kinderheim regnet es noch immer. Wir müssen deshalb ganz schnell rennen. Einer vor mir stolpert über seine Tasche in den Matsch. Er weint, weil sie aufgeht und seine Sachen rauskommen und die anderen einfach drüber trampeln.
Mein Bett steht in einem 8-Bettzimmer. Ich schlafe unten, ein Junge, den ich nicht kenne, oben. Manchmal pinkelt er ins Bett. Einmal so viel, dass es bis zu mir runtertropft. Am nächsten Morgen, als ich sage, dass das ekelig ist, sagt er, wenn ich ihn verpetze, verkloppt er mich.
Morgens und abends müssen wir in Zehner-Reihen in den Waschraum. Am langen Waschbecken das Gesicht waschen und die Zähne putzen. Meine Zahnpasta schmeckt nach Erdbeer. Wenn keiner guckt, schlucke ich sie runter und tue nochmal neue drauf.
Zum Abendessen gibt´s Schmierkäse-Brote mit Schnittlauch. Ich mag beides nicht. Aber man darf erst aufstehen, wenn man aufgegessen hat.
Wenn ich den Stuhl zurückschiebe, klebe ich die Schmierkäse-Brote unter die Tischplatte. Irgendwann nachts fallen sie runter und sind am nächsten Morgen nicht mehr da. Ich setze mich nie an denselben Tisch.
Der Regen hört nicht auf. Weil wir deshalb nicht raus können, kriegen wir Meerwasser-Bäder. Die sind unten im Keller. Man muss zuerst durch den langen dunklen Gang auf eine Eisentür zugehen. Unter einer Decke mit Rohren und Spinnweben durch. Hinter der Eisentür hört man schon das Brodeln. Wenn die Tür aufgeht, ist es noch lauter und man sieht, dass das Geräusch von den Holzbottichen kommt. Die sehen aus wie blubbernde Töpfe von Riesen, in die kleine nackte Kinder von Frauen in weißen Kitteln gestopft werden. Alle schreien und weinen. Das Brodeln ist aber lauter. Deshalb schreie ich erst gar nicht.
Nach einer Woche hört der Regen auf. Und wir dürfen an den Strand. Ich sammle so viele Muscheln, dass meine Hosentasche von Innen reißt und die Muscheln mir beim Gehen ins Bein schneiden. Aber ich brauche die als Geschenk für Magda und für zu Hause, vor allem die ganz weißen und die, die aussieht wie ein Herz. Und die Doppelte, die aussieht als wären es Flügel. Die ist für meine Schwester. Nach drei Tagen regnet es wieder und wir müssen wieder runter in den Keller.

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