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Das Ehemaligen Treffen Kurzgeschichte
Immer öfter bekomme ich Post aus der Vergangenheit. Die Ehemaligen wollen mich sehen. Die ehemaligen Abiturienten … die ehemaligen Vereinskameraden … die ehemaligen Kommilitonen … die ehemaligen Ehemaligen. Komisches Wort überhaupt: „ehemalig“. Lebe ich in „Ehe“ mit meiner Vergangenheit? Bis dass der Tod uns scheidet? Und muss ich all die Vergangenheits -„Male“ für immer mit mir tragen? Ich fürchte es. Bei diesem merkwürdigen Wort „ehe-malig“ hat sich wirklich jemand etwas gedacht. Wahrscheinlich ist es ihm auf einem Ehemaligen-Treffen in den Sinn gekommen. Da stand er also: Sein Blick, etwas getrübt vom Rotwein, wanderte über die Köpfe seiner ehemaligen Schulkameradinnen und Kameraden. Während die Band Hits aus den 90er-Jahren spielte, versuchte er, seine Vergangenheit in den Gesichtern wiederzufinden. Lange kreuzte ihn niemand, der im ausreichend bekannt vorgekommen war. Und ebenso lange war es ihm nicht wichtig genug gewesen. Spätestens am übernächsten Tag würde er in einer Ehemaligen-Facebook-Gruppe alles nachlesen: mit wem er gefeiert hatte, wie überwältigend gelungen das Fest gewesen war, und dass es schon bald wiederholt werden müsse. Er würde die Fotografien betrachten, Namen und Gesichter einordnen, ein Like als Zeichen der Teilnahme setzen und der nächsten Einladung nicht folgen. Während er sein Glas zum Gehen leerte, winkte jemand vom anderen Ende des Saales zu ihm herüber. Er war sich nicht sofort sicher, ob er gemeint war, so wie er sich oft darüber nicht sicher war. Die Person war offenbar klein, denn sie wurde immer wieder von der Menge verschluckt. Erst, als sie gleichzeitig zu winken und zu hüpfen begann, erkannte er sie an ihren grau-schwarzen Locken: "Lisa. Kaum wiederzuerkennen", schämte er sich für den unzensierten Gedanken, der mit Gewicht zu tun hatte. "Wenn sich die eigenen Hüften immer weiter von einem entfernen, sollte man vorsichtiger sein", maßregelte er sich selbst. Und dachte stattdessen, ob es wohl an ihm sei, sich zu ihr auf den Weg zu machen. Noch bevor er eine Entscheidung treffen konnte, schob sie sich bereits durch die Menge. Während er sie dabei beobachtete, spürte er ein Kribbeln. Es war nicht so, wie er es erinnerte, nicht Lisa-groß genug. Aber es hatte immer noch einen Geruch: den Duft ihrer schwarzen Locken, denen er nie nah genug gewesen war. Als ein massiger Mann sie mit einem Bierglas anrempelte, unterbrach Lisa ihren Weg. Das verspritzte Bier schien sie nicht zu stören, im Gegenteil, sie wischte es über ihr Kleid, lachte auf, griff den Mann an der Hand und zog ihn mit sich. Als die beiden vor ihm standen, erkannte er auch ihn: „Hannes. Scheißkopf. Drecksau, alte. Hast mich jeden Mittwoch an der Ecke abgefangen. „Zum Ritter“, hatte schon Angst, wenn ich das Schild nur von weitem sah. Da standst du, großer Hannes, um mich in den Arsch zu treten. Jeden Mittwoch nach der Schule. Deine rote Fresse über mir. Auch die Mädchen haben gelacht. Sogar Lisa. Scheiß auf dich Hannes. Freut mich, dass dein Körper gegen den Alkohol verliert. Trittst mir nicht mehr in den Arsch. Bist kein großer Hannes mehr. Nur noch gelber Schwamm. Und doch: war der alte Hannes-Schmerz all die Jahre bei mir. Meine Ehefrau, die ich nie hatte. Mit der ich schlief und erwachte. Das Mal auf meiner Seele. Mein Ehe-Mal. Doch auch du bist ein Ehe-maliger, Hannes. Auch du", schüttelte er dem Ehemaligen die feucht-warme Hand.