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Der Erwachsene - Leseprobe aus dem Roman

Dies ist eine kurze Leseprobe aus dem neuen Roman: "Im Nachhinein brennt noch Licht". Die folgende Passage ist Teil der Erwachsenengeschichte, der im Roman die Kindheits-Geschichte vorausgeht:

Das Essen war so solide wie versprochen und das Bier tatsächlich ausgezeichnet, sodass ich länger blieb, als ich es vorgehabt hatte. Irgendwann kam mir Eddies Bemerkung zu meiner Mutter wieder in den Sinn. Und ich entschloss mich, ihn doch noch zu fragen, ob seine Mutter bereits gestorben sei. Zunächst schaute er mich an, als sei meine Frage eine einzige Zumutung. Dann antwortete er kurz und knapp: „Somehow.“
Ich war mir nicht sicher, ob es an meinem mangelnden sprachlichen Verständnis des benutzten Wortes lag oder ob er ganz gezielt diese Uneindeutigkeit gewählt hatte, um eine Tür zu öffnen, durch die ich mit der nächsten Frage gehen sollte. Auf solche, bewusst gesetzte Einladungen zum Nachfragen gehe ich ungern ein, weil sie nicht selten der Beginn einer Inszenierung sind, bei der man von seinem Gegenüber am Nasenring durch ein Gespräch geführt wird. Andererseits bestand die Möglichkeit, dass seine Situation wirklich so uneindeutig war. Mit einer gezielten Nachfrage könnte es also passieren, dass ich etwas ansprach, auf das es keine klare Antwort gab oder vielleicht nicht angesprochen werden sollte.
Also entschied ich, keine weitere Frage zu stellen. Stattdessen sagte ich nur: „That sounds familiar to me.“ Das war genauso uneindeutig, wirkte aber wie ein Angebot sich in der Uneindeutigkeit zu verbinden. Denn aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass wir uns eine Erfahrung teilten, ohne zu wissen, ob sie dieselbe Farbe hatte.
Die Wahrscheinlichkeit einer verkorksten Familiengeschichte schätzte ich dabei hoch ein. Denn die meisten Menschen meiner Generation können, wenn sie sich erst einmal öffnen, solche Geschichten erzählen. Sie sind voll mit Kapiteln, in denen sich tragische oder tragisch-komische Figuren umeinander drehen. Figuren, die schlecht gecastet wurden und unvorbereitet durch ein wirres Drehbuch irren, ohne dessen Inhalt oder ihre eigene Rolle zu verstehen. Die meisten Geschichten haben erstaunliche Dramen, manche sind voller Wiederholungen, ohne dass sie einen Sinn ergeben, in manchen wird ein Leben lang geschwiegen, manchen fehlen ganze Passagen und nahezu alle haben mehrere Versionen, je nachdem, wer sie erzählt.
Eddie begann seine mit einem unerwarteten Satz:
“I am the boy from the bag. I don´t know my mother and my father.”
Ich verstand nicht sofort, spürte aber die Tragweite, die hinter den kurzen Sätzen lag. Während ich noch über seine Worte nachdachte, begann Eddie bereits mit seiner Geschichte:
Sie nahm ihren Anfang vor der Tür einer Quäker Kirche in einem kleinen englischen Nest. Kurz nach der Geburt hatte man ihn dort in einer Sporttasche abgelegt und die Tür-Glocke geläutet. Dann war die Person hastig weggerannt. Ein Ladenbesitzer, der gerade gegenüber seine Tür abgeschlossen hatte, war sich sicher, eine Frau gesehen zu haben. Die Frau, die die Kirchen-Tür geöffnet hatte, glaubte, sie habe schnelle Schritte eines Mannes gehört. Doch alle Hypothesen und Nachforschungen erbrachten kein Ergebnis. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Waisenhaus war Eddie an eine nette Mittelklasse-Familie vermittelt worden, die ihn adoptiert und liebevoll aufgezogen hatte. Wer seine leiblichen Eltern waren, hatte er nie erfahren, obwohl er mehrere Versuche unternommen hatte, Licht in sein eigenes Dunkel zu bringen. Vor einem Jahr hatte er ein kleines Vermögen für ganzseitige Anzeigen in großen englischen Tagesanzeigen ausgegeben, in denen er einige Hinweise auf seine Geschichte gab, die seine Eltern wiedererkennen konnten und versprochen, ein Wiedersehen nicht nur diskret, sondern ohne jeden Anspruch und Vorwurf zu gestalten. Doch es meldeten sich nur einige Trittbrettfahrer, die glaubten hinter den Anzeigen müsse jemand sehr Vermögendes stecken und hofften, sie könnten daraus einen finanziellen Nutzen ziehen. Doch bei allen stellte sich schnell heraus, dass ihre Geschichten und die Zeitabläufe nicht zu Eddies Geschichte passten. Einen besonders dreisten Hochstapler, der nicht lockerließ und immer wieder vor Eddies Wohnung auftauchte, hatte er unter Androhung von Gewalt wütend vertreiben wollen. Leider hatte ihm das selbst eine gebrochene Nase eingebracht. Seitdem trainierte er zweimal wöchentlich im Boxkeller von Tomas.
Das war eine ziemlich beeindruckende Geschichte. Doch sie bestürzte mich viel weniger, als ich es erwartet hatte. Stattdessen kam mir der Gedanke, dass es für Eddie und seine Adaptionsfamilie gar nicht schlecht gelaufen war. Ich selbst hatte meine leiblichen Eltern mehr als einmal verwünscht und als Kind und Teenager davon geträumt, dass mich eines Tages die richtigen abholen würden. Je älter ich wurde, umso konkreter stellte ich es mir vor: Sie würden mit einer großen schwarzen Limousine vorfahren, hupen und mit laufendem Motor vor dem Haus auf mich warten. Während alle Nachbarn aus dem Fenster glotzten, würde ich mir den Käfig mit meinem Wellensittich Pitti schnappen, rausrennen, die hintere Tür aufreißen, mich mit Schwung auf den Rücksitz werfen und sagen: „Wo wart ihr denn die ganze Zeit? Ich habe ewig auf euch gewartet.“
Doch es kam keine schwarze Limousine, sondern nur ein goldener VW K70. Mit einem Schuldenberg im Kofferraum, den mein Vater mit noch mehr Alkohol betäubte.
Nachdem ich Eddie meine Familien-Geschichte erzählt hatte, waren wir uns einig: Seine hatte einen Anfang, der nicht zu toppen war, meine bestach durch die gebrochenen Charaktere und deren Fähigkeiten, ständig neue Dramen zu inszenieren.
Wir einigten uns schließlich auf ein Remis, zahlten und tranken den letzten, selbstgebrannten Schnaps aufs Haus. Dann machten wir uns auf getrennten Wegen auf den Heimweg.
Auf meinem Weg zurück dachte ich darüber nach, wie wenig Drama wir in unsere Erzählungen gelegt hatten. Dass weder er, noch ich, eine angemessene Emotion beschrieben hatten, die wir mit dem Geschehenen verbanden. - Sachliche Chronisten unserer eigenen Geschichte, die sich jede Empathie für das jüngere Ich verbaten. Das schien mir einerseits merkwürdig, andererseits fühlte es sich vertraut und richtig an. Denn es erinnerte mich an viele Situationen, die ich als Kind durchlebt hatte. Im Nachhinein wunderte ich mich, wie sehr ich an vielen Stellen meines Lebens, das, was um mich herum und mit mir geschah, so erlebt hatte, als habe es nichts mit mir zu tun.
Dann dachte ich an Eddie und an die Sporttasche, in der er vor der Kirchentür abgelegt wurde. Wahrscheinlich war sie ein oder zwei Jahre auf einer provinziellen Polizeidienststelle aufbewahrt worden und nach den Ermittlungen, die irgendwann im Sande verlaufen waren, in einem Müllcontainer hinter dem Haus gelandet. – Der einzige Hinweis auf seine Vergangenheit, die einzige Manifestation eines Aktes, den man mit viel Fantasie als fürsorglich beschreiben könnte:
Das Ablegen des Kindes in den schützenden Behälter. Mit einer kleinen, wärmenden Decke. Leise Vorsicht choreographiert von der Angst. Jetzt nur keinen Schrei. Das Knarren der Tür. Ein Schatten, der im Türrahmen bleibt. Schnelle Schritte auf dem Kopfstein. Kühle Herbstluft auf glühender Stirn. Nur noch wenige Meter. Gottlob. Im Ziel brennt noch Licht. Jetzt nur noch drei Stufen. Hastige Blicke nach links und nach rechts. Die Hand auf der Glocke. Der Schreck über das Geräusch. Horchen auf Schritte im Flur. Ein letzter Blick zur Tasche. Hat es sich bewegt? Von der Glocke erwacht? Die Schritte kommen näher. Sind schon zu nah. Dürfen nicht noch näher heran. Panik. Fort. Fort. Stürmische Flucht auf trommelnden Füßen. Flucht vor dem neuen Leben. Zurück in das alte. Das nie wieder das alte wird.

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